Eine Fahr­rad­tour mit Freun­den und anschlie­ßen­der Erfri­schung im Bier­gar­ten zu planen, ist für viele von uns eine bekannte Situa­tion. Am Tag selbst ist das Ziel glas­klar: noch 30, 20 und dann zehn Kilo­me­ter bis zur Gast­stätte. Wie passt denn jetzt in dieses wunder­bar verständ­li­che und über­sicht­li­che Konzept der Spruch „Der Weg ist das Ziel.“ hinein? Ich habe ihn mir schon gefühlt 1000-mal von älte­ren Verwand­ten in der Kind­heit anhö­ren dürfen und ihn im Laufe der Zeit auch gele­gent­lich selbst ande­ren Leuten vorge­hal­ten, um sie entwe­der zum Inne­hal­ten zu ermu­ti­gen oder aufzu­zie­hen. Doch dieser Gedanke hält noch mehr bereit als ein poten­zi­el­les Nerv-Potential. 

Ich musste fest­stel­len, dass es eine gewöhn­li­che Praxis ist, sich viele Ziele im Leben zu setzen und sobald mensch eines tatsäch­lich erreicht hat, wird sofort ein neues nach­ge­scho­ben. Viele Leute, mich einge­schlos­sen, sind schon routi­niert und trai­niert darin, dies ganz unbe­merkt und auto­ma­tisch zu erle­di­gen. Warum auch nicht? Wer rastet der rostet, weiß doch jeder. Stagna­tion ist in unse­rer heuti­gen Zeit gefähr­lich, alle ande­ren könn­ten ja sofort an einem vorbei­zie­hen und Weiter­ent­wick­lung ist gefühlt einer der wich­tigs­ten Werte, die einem in allen Lebens­be­rei­chen begegnen. 

Was wir bei all der Ziel­ori­en­tiert­heit und dem Zukunfts­fo­kus verges­sen, ist, dass wir durch das Setzen neuer Pläne unse­ren gedach­ten Endpunkt immer wieder von uns weg wegschie­ben — obwohl wir mal kurz davor waren ihn zu über­tre­ten. Der Witz an dieser Geschichte ist: Wir arbei­ten die ganze Zeit auf diesen Moment der Lini­en­über­que­rung hin, doch unser eigent­li­ches Leben findet auf dem Weg dort­hin statt. Wir versu­chen stets durch unser Handeln, das Beste aus unse­rer Lebens­zeit heraus­zu­ho­len und verpas­sen derweil wich­tige Augen­bli­cke. Weil wir verges­sen den Prozess zu feiern. Wir sind kleine Action­hel­den in unse­rem Spiel des Lebens, sammeln die ganze Zeit Münzen, bis wir einen bestimm­ten Betrag haben und dann kommen wir ins nächste Level und sammeln einfach weiter. 

Welchen Wert messen wir Zielen bei? 

Lasst uns mal kurz inne­hal­ten und uns fragen, was unsere persön­li­chen Ziele für uns bedeu­ten– Moti­va­tion oder Frus­tra­tion? Mich spor­nen sie eher an und schen­ken mir Kraft, Ausdauer und Hoff­nung. Die Liste an Vorha­ben, die ich momen­tan verfolge, hat nur noch mini­male Über­ein­stim­mun­gen mit der, die ich vor zwei Jahren ange­fer­tigt habe. In welchem Abstand orien­tie­ren wir uns neu? Wie weit soll­ten wir in die Zukunft blicken, um noch realis­tisch über Projekte entschei­den zu können? 

Orien­tie­rung und Ziel­stre­big­keit sind in Maßen etwas Posi­ti­ves, die Kunst ist wohl eher das Hier und Jetzt nicht aus dem Fokus zu verlie­ren. Einfach mal das feiern, was da ist und erreicht wurde. Einfach mal den Ziel­set­zungs­wahn­sinn durch­bre­chen und wie Dago­bert Duck in den Pool voller Münzen sprin­gen. Einfach mal auspro­bie­ren, wie sich das so anfühlt, die eigene Leis­tung zu sehen und wert­zu­schät­zen.  

Das Dago­bert Duck-Prin­zip in der Praxis  

Im Arbeits­kon­text gibt es da ja schon seit Jahren ein effi­zi­en­tes und einfa­ches Konzept: „objec­ti­ves and key results (OKRs)“. Die „objec­ti­ves“ dienen als Leit­idee, denn sie inspi­rie­ren das Team und helfen sich der eige­nen Mission, dem „Wofür?“ bewusst zu werden. Die „key results“ sind dann das „Wie“, also die konkre­ten Ergeb­nis­vor­stel­lun­gen. Sie müssen mess­bar und veri­fi­zier­bar sein und sollen als realis­tisch sowie fordernd wahr­ge­nom­men werden, wobei letz­te­res vor allem durch die zeit­li­che Begren­zung umge­setzt werden kann. Die OKRs sind also die Ziele des Teams für einen bestimm­ten Zeit­ab­schnitt, wobei der befrie­di­gendste Augen­blick am Ende dieser Zeit passiert, denn da werden die Ergeb­nisse gefeiert. 

Was passiert, wenn diese Abschnitte und Level­auf­stiege nicht expli­zit gemacht werden? Verges­sen wir dann schnel­ler, dass wir auch mal bei Level 4 waren? Oder wird mensch gerade wegen dieser Feier der vermeint­li­chen Voll­endung bequem und ist dann so zufrie­den mit der eige­nen Leis­tung, dass es nun gar keine Moti­va­tion mehr gibt, sich für Neues zu begeis­tern oder einen Blick über den eige­nen Hori­zont zu werfen? Was löst der Gedanke, Pläne abzu­ha­ken, bei jedem von uns aus? Was passiert, wenn wir auch nach Jahren immer noch das glei­che, bis jetzt uner­reichte, Vorha­ben auf unse­rer Liste haben? Warum ist es über­haupt so erstre­bens­wert, wenn wir es so lange aufschie­ben? Seit der Kind­heit wird einem gesagt und gezeigt, dass es ratsam ist, seine Ziele hoch­zu­ste­cken, für den nöti­gen Ansporn, Ehrgeiz und um erfolg­reich zu sein. Muss mensch auch mal abstrakt denken und sich sagen „ich möchte auf den Mond“? Irgend­wer hat sich das früher ja auch mal gedacht und es dann gemacht. Ist der Prozess der Ziel­fest­set­zung über­haupt der rich­tige Weg oder sind itera­tive Entschei­dun­gen bezüg­lich der Bedeu­tung der Wünsche hilfreicher? 

Im glei­chen Atem­zug kommt die Frage auf, wie wir damit umge­hen sollen, wenn wir ein Endpunkt fast erreicht haben und ganz kurz vorm Schluss merken, dass es gar nicht so wert­voll oder wünschens­wert ist. Sollte mensch dann trotz­dem weiter­ma­chen, einfach um es erreicht zu haben? Kann es sein, dass wir auch Gedan­ken verfol­gen, die uns von der Gesell­schaft, Fami­lie oder falschen Idea­len aufge­zwun­gen wurden? Fakt ist, jedes Indi­vi­duum hat eine eigene Reali­tät, niemand weiß was falsch und was rich­tig ist. Die Perspek­tive macht es. Sind Ziele daher mitein­an­der vergleich­bar? Nein. Tun wir es trotz­dem? Leider ja. Erzäh­len so viele Leute von ihren Vorha­ben, weil dadurch ein (unge­woll­ter) Zwang entsteht, diese auch in die Tat umzu­set­zen? Und gibt es eine Ober­grenze für die Anzahl von Plänen auf einer Wunsch­liste oder erschöp­fen uns viele paral­lele Projekte gar nicht? 

Auspro­bie­ren und gucken, wie es sich anfühlt 

Ich persön­lich brau­che Visio­nen und noch wich­ti­ger ist mir meine Wert­schät­zung an mich selbst. Das „Wofür?“ inspi­riert mich und treibt mich an (und sicher auch viele andere, denn nicht umsonst ist die Frage: „Warum sind wir auf der Welt?“ die wohl meist­dis­ku­tierte Frage aller Zeiten). Da ich nun meine konkre­ten Absich­ten nach dem OKR-Prin­zip mess­bar mache, habe ich zum einen die Möglich­keit, bewusst alte erreichte Ziele zu feiern und gleich­zei­tig erfülle ich mein inne­res Bedürf­nis nach einem acht­sa­me­ren und bewuss­te­ren Leben. 

Ich versu­che jeden Moment wert­zu­schät­zen und für den Fall, dass es mir mal schwer­fällt, den Augen­blick zu feiern, weil ich gerade eigent­lich etwas Größe­rem nach­jage, rufe ich mir folgen­des zurück in meinen Kopf: Wir setzen uns unsere eige­nen Maßstäbe. Niemand ande­res. Ist das Vorha­ben zu groß und scheint mich zu über­for­dern, sodass ich den Weg dort­hin nicht voll­ends genie­ßen kann? Wunder­bar, nun bietet sich mir die Möglich­keit, meine große Vision, in klei­nere nahba­rere Aspekte herun­ter zu brechen, bis ich sie eines Tages wieder zusam­men­set­zen kann. 

Bei meinen Fahr­rad­tou­ren versu­che ich auch die klei­nen Freu­den zu wert­schät­zen, zum Beispiel dass ich mein “heute mache ich Sport”-Vorhaben abha­ken darf oder ich mit meinen Freun­den zusam­men neue Fahr­rad­wege erkun­den kann und sie mir etwas Span­nen­des aus ihrem Leben erzäh­len, sodass es auch auf mein steti­ges Ziel “jeden Tag entde­cke ich etwas Neues” einzahlt. 

In diesem Sinne fühlt euch ermu­tigt eure Ziele mit einer neuen Vorge­hens­weise zu formu­lie­ren und abzu­schlie­ßen und dabei viel Spaß beim Schwim­men in den Münzen!