Die Stacey Matrix gehört in agilen Einführungsveranstaltungen zum guten Ton, beschreibt sie doch wie kaum eine andere Visualisierung die Auswirkungen von individueller werdenden Nutzeranforderungen und technologischem Fortschritt.

Die Grundidee ist schnell erklärt: Befinde ich mich mit meiner Organisation in einem Umfeld, in dem die Nutzeranforderungen klar sind und ich mit bekannten Technologien arbeiten kann, so komme ich sehr wahrscheinlich gut mit den bisher eingesetzten Projektmanagement Methoden zurecht. Je weiter ich mich jedoch auf der X- und Y‑Achse nach rechts beziehungsweise nach oben bewege, desto unbekannter werden die Technologien und die Anforderungen der Nutzer und desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, mit klassischen Modellen der Produktentwicklung und Unternehmenssteuerung in ernsthafte Schwierigkeiten zu kommen oder gar zu scheitern.
Scrum, Kanban, Lean Startup oder doch Design Thinking?
Die Frage, welches agile Framework denn nun am geeignetsten ist, ist so alt wie die Frameworks selbst und bevor hier falsche Hoffnungen geweckt werden: ich werde sie nicht beantworten (können). Und genauso wenig wird das die Stacey Matrix. Es irrlichtern Abbildungen durch digitale und analoge Kanäle, die eine trügerisch einfache Lösung parat haben:

Davon gibt es freilich diverse Variationen. Beispielsweise werden Scrum und Kanban auch gerne mal vertauscht, da sich, in der entsprechenden Argumentation, explorative Projekte ohne klare Ursache-Wirkungszusammenhänge ungern in 2‑Wochen-Sprints zwängen lassen. Und wenn sowohl Nutzerwünsche als auch benötigte Technologien völlig außer Kontrolle geraten sind, hilft nur noch Design Thinking. Oder Lean Startup. Angeblich.
Bei allem Verständnis für den Wunsch, die Entscheidung für ein Framework möglichst früh im Projekt zu treffen, schließlich hängen da ja auch Rollen, Titel und Verantwortlichkeiten dran, so sehr möchte ich Werbung dafür machen, nicht in diese Falle zu tappen. Sie verspricht eine falsche Sicherheit und birgt hohe Risiken für das Projekt und die Organisation:
- Es gibt eine sehr ausgeprägte Tendenz dazu, die eigene Komplexität zu überschätzen. Mal abgesehen davon, dass es bei der Matrix gar nicht um die Bewertung der eigenen Komplexität sondern die der relevanten Umwelt geht, würden Entscheidungen also auf der Grundlage einer stark subjektiv gefärbten Einschätzung getroffen da es keine Messzahl für die Komplexität einer Organisation gibt.
- Organisationen, die gerade erst agiles Arbeiten und Verhalten lernen, tendieren dazu, Entscheidungen als unumstößlich anzusehen. Sollte man sich also beispielsweise für Scrum entscheiden und nach drei Monaten merken, dass die Rahmenbedingungen dafür noch nicht die richtigen waren, so dauert es in der Regel noch einmal drei Monate, bis diese Entscheidung wieder rückgängig gemacht wird.
- Die Stacey Matrix beinhaltet keinerlei Indikator dafür, welche Veränderungsgeschwindigkeit ein Unternehmen gehen kann. Sind die Schritte zu groß, droht eine Organisation daran zu zerbrechen. An einem Framework festzuhalten, weil es beim Wettbewerb ja schließlich auch funktioniert hat, ohne die notwendige Reife dafür zu haben ist sehr gefährlich.
Es entsteht außerdem der Eindruck, agile Frameworks würden für einfache Anforderungen und Technologien zu viel Overhead produzieren und wären daher in diesen Situationen nicht geeignet. Natürlich muss ich für die Arbeit am Band kein crossfunktionales Team zusammenstellen. Doch auch die Produktion ist mittlerweile lean und kurze Feedbackzyklen haben selbst der einfachsten Arbeit noch nicht geschadet.
Hinzu kommt, wie so oft, das Risiko, Agile Frameworks als unterkomplex einzuschätzen und sich zu schnell in die falschen Ursache-Wirkungsprinzipien zu verlieben. So könnte ja ein Glaubenssatz sein: „je komplexer mein Problem, desto mehr Freiraum muss ich meinen Mitarbeitern lassen – da scheint mir Design Thinking genau das Richtige!“ „Insbesondere in chaotischen Zeiten brauchen die Mitarbeiter Führung und Sicherheit. Die bekommen sie vor allem, wenn sie wissen, was zu tun ist.“ Auch dieser Blickwinkel hat seine Berechtigung. Es kommt eben ganz darauf an, mit was für einer Unternehmensidentität und ‑kultur ich es zu tun habe.
Darf ich die Stacey Matrix nun gar nicht mehr benutzen?
Das alles bedeutet nicht, dass die Stacey Matrix jetzt aus den Köpfen und Trainings verbannt werden soll. Ganz im Gegenteil. Sie ist und bleibt eine hervorragende Möglichkeit, die Grenzen wirksamen Handelns klassischer Organisationen zu visualisieren. Auch ist sie ein guter Ausgangspunkt für die Reflexion der Einflussfaktoren Kundenwunsch und Technologie auf die eigene Unternehmens- oder Projektwirklichkeit.
Lediglich die Entscheidung, welches Framework denn nun eingesetzt werden sollte, sollte nicht auf Grundlage dieser Reflexion getroffen werden. Wie bereits angesprochen, werde ich nun nicht detailliert auf die Frage eingehen, welches Framework in welcher Situation am besten passt. Dennoch möchte ich zumindest ein paar Fragen mit auf den Weg geben, bei denen sich ein paar strukturierte Gedanken in jedem Fall lohnen:
Geht es ums Überleben oder die Weiterentwicklung? (Was ist die Veränderungsenergie?)
Welche Organisationsentwicklungsinitiativen waren in der Vergangenheit schon einmal erfolgreich? Und warum?
Welche Steuerungskonzepte werden als wirksam erlebt und welche nicht?
Wie erlebt ihr die Entscheidungen für oder wider bestimmte Frameworks? Ich freue mich auf Eure Erfahrungen!