Warum beschäftige ich mich mit Konflikten? Nun ja, das Leben brachte mich mehr oder weniger dazu. Konflikte sind dort überall zu finden und irgendwann packte mich das Interesse und der Ehrgeiz, sie besser verstehen zu wollen, um damit eine Kompetenz im besseren Umgang mit ihnen zu entwickeln. Nach vielen Büchern von schlauen Menschen (siehe Referenzliste) sowie zahlreiche Gespräche mit ebenso schlauen Kolleg:innen und Konfliktberater:innen, stehe ich heute noch immer da und möchte gern einen Blick in meine aktuelle Denkwerkstatt und Sinnstiftung ermöglichen.
Anhand 5 Thesen hangle ich mich hoffentlich in einem leichtverdaulichen Sprachgebrauch durch das doch sehr komplexe Thema Konflikt, Konfliktsysteme und Konfliktpersönlichkeit. Ich ende mit 5 Handlungsempfehlungen, die ich gerade auf jeder persönlichen Agenda sehe, um kompetent in Konflikten als Moderatorin, Führungskraft oder einfach nur als Mensch zu sein (für alle Ungeduldigen, die vorscrollen möchten).
These 1: Konflikte können nicht vermieden werden.
These 2: Konflikte können nicht gelöst werden.
These 3: Die Ursache von Konflikten ist irrelevant.
These 4: Wir haben keine Konflikte mit anderen Menschen, sondern nur mit uns selbst.
These 5: Keine Veränderung ohne Angst/ Widerstand.
Triggerwarnung: Es wird sehr oft das Thema und Wort Konflikt fallen, wer jetzt schon bei dieser Vorstellung merkt, dass ein Impuls hochkommt, sofort Harmonie herstellen oder das Thema auflösen zu wollen — Herzlichen Glückwunsch zur ersten Erkenntnis bevor der Artikel überhaupt angefangen hat! Feier es. Mach dir eine Notiz. Und schau dir das dahinterliegende Thema oder Gefühl, was sich offensichtlich dadurch ausdrücken möchte, im Anschluss direkt mal an.
Starten wir mit einem gerngesehenen und weitverbreiteten Vorurteil, was uns leider überhaupt nicht kompetenter werden lässt: Konflikte sind beherrschbar und manageable. Es ist eher andersherum, was bereits These 1 zeigen soll:
„Konflikte können nicht vermieden werden.“
In sozialen Systemen sind sie immer da — an unterschiedlichen Ecken und in unterschiedlichen Formen. Aber erst nochmal zwei Schritte zurück:
Stellt euch die folgende Situation vor: Zwei Kinder sitzen vor jeweils einem weißen Blatt und einem großen Haufen Buntstifte, um ihrem jeweiligen Bedürfnis nach Kreativität und Ausdruck nachkommen zu wollen. Das Kind mit dem blonden Zopf nimmt sich den dunkelblauen Stift, um eine Gewitterwolke zu machen. Das andere Kind mit dem dunklen Lockenkopf wollte auch gerade den dunkelblauen Stift, um damit ein Auto zu malen.
Bis hierher eine ganz normale Situation, die zu 100fach in unserem Alltag passiert:
- Der Kollege, der das letzte Stück Torte isst, auf das ich mich den ganzen Tag gefreut hatte.
- Bei der gemeinsamen Date-Night möchte sie ins Restaurant und tanzen und er Pasta und Couch.
- 13 Storypoints sind noch frei im Sprint und der Product Owner hat aber noch 5 mega geile Features, die er gern umgesetzt haben möchte.
- Die Architekten möchten lieber Re-factoring machen, die UXer das neue Feature umsetzen.
- Der Mitarbeiter möchte gern 15.000€ Gehaltserhöhung, die Vorgesetzte sieht lediglich einen Inflationsausgleich.
Alle diese Situationen haben (mindestens) eine Sache gemeinsam: Sie sind noch kein Konflikt. Sie stellen lediglich unterschiedliche Erwartungshaltungen an ein und dieselbe Situation dar.
Erst wenn eine weitere Verneinung passiert, also erst wenn das Kind mit dem Lockenschopf auf den dunkelblauen Stift besteht, entsteht eine Verhärtung und damit ein Konflikt. Das Kind könnte sich jedoch auch anders entscheiden und das Auto rot malen oder erst mit der Straße anfangen und das blaue Auto später malen (oder ihrem Wunsch nach Ausdruck und Kreativität im Tanzen wiederfinden oder…).
Erst durch die Verhärtung und die „doppelte Verneinung“ entsteht laut Luhmann ein Konflikt. Er spricht von Konfliktsystemen und meint damit die festgefahrenen Verhaltensmuster und auch die Strukturen, die sich um einen Konflikt aufbauen können. Diese Konfliktsysteme sind wie andere soziale oder biologische Systeme selbsterhaltend, d.h. Zellen lassen Zellen entstehen, Kommunikation lässt Kommunikation entstehen, eine zuverlässige Verneinung im Konflikt lässt eine weitere Verneinung sehr wahrscheinlich werden. Diese Muster sind stabil, auch über die Zeit hinaus.
Ist doch erstmal super, zu wissen und bewusst zu haben. Wir lieben doch Stabilität in dieser schnelllebigen Zeit!
Was macht diese Stabilität? Nun, das Folgende werden sicher alle kennen: In einem Konflikt sagt man manchmal Dinge, über die man sich im Nachgang wundert. Oder man erkennt sich kaum noch wieder im eigenen Verhalten. Oder man hört gar nicht mehr richtig hin, was das Gegenüber sagt, sondern ist schon damit beschäftigt, das neue Argument zu formulieren.
Konflikte machen mit der doppelten Verneinung offensichtlich eine bedeutsame Unterscheidung zu etwas, was vorliegt.
Das wird die Systemiker unter euch freuen. Endlich wieder eine bedeutsame Unterscheidung!
- Konflikte stabilisieren nämlich entweder die Ordnung, die vorliegt
- Oder sie stellen das Vorliegende in Frage
- Oder wollen es sogar ganz neu sortieren
Und das wiederum sind doch auch ganz hilfreiche Funktionen für Veränderungen, die wir benötigen. Erinnert euch an das letzte Mal, wo ihr euch gegenüber eurer Mutter emanzipiert habt. Bei manchen ist es in der Pubertät geschehen, bei manchen vielleicht erst gestern: Es braucht die Abgrenzung, die Verneinung, für das Schaffen etwas Neuem. Es braucht den Konflikt für die Veränderung.
Damit komme ich zu These 2:
„Wir können Konflikte nicht auflösen.“
Jede Innovation ist Konflikt, weil sie neues herstellen will. Jedes Andersmachen, steht im Konflikt mit dem bisher Getanen. Jeder Vorschlag könnte Konflikt sein. Aber das wiederum braucht es, um sich zu bewegen und vorwärtszukommen (wo auch immer vorne sein mag).
Konflikte können also auch funktional sein und damit notwendig und wert, ausgetragen zu werden. Oft jedoch sind sie dysfunktional, ähneln einem Kampf gegen Windmühlen oder werden an einer festgefahrenen Stelle ausgetragen. Daher gilt es immer ihre Funktionalität zu bewerten und dann: Choose your piece of cake wisely, but choose! Und lass dich nicht vom Konflikt instrumentalisieren.
Und damit schließt sich direkt These 3 an:
„Die Ursache von Konflikten ist irrelevant.“
Es ist viel spannender, zu erkunden, was der Konflikt uns eigentlich sagen möchte und vor allem, wie er dies durch seine Umwelt bedient bekommt, wie er sich nährt. Wie hält er sich stabil? Dieser Blick auf das Konfliktsystem und dessen dahinterliegende Funktion lohnt sich immer und kommt häufig bei Moderationen, Beratungen oder in Organisationskontexten zu kurz, weil man entweder direkt das Thema ignorieren oder schnell auflösen möchte.
„Ja kein Aufruhr entstehen lassen.“ „Ist doch alles im grünen Bereich hier.“ „Die Menschen, die müssten sich nur ändern oder ersetzt werden, dann läuft es hier wieder.“ Das ist leider etwas zu kurz gegriffen und wird der hohen Komplexität von Konflikten nicht ausreichend gerecht.
Natürlich hängt das Konfliktsystem mit den festgefahrenen Kommunikationsmustern und den zuverlässigen Verneinungen nicht im luftleeren Raum, sondern befindet sich in einer relevanten Umwelt in Form von den sogenannten Menschen. Wir als psychische Systeme koppeln uns an das Konfliktsystem, indem wir, wie eine Kollegin zu sagen pflegt, Ösen zur Verfügung stellen, wo sich der Konflikt festhaken kann. Diese Ösen sind unbearbeitete Themen, unbeachtete Gefühle, wie z.B. Angst, Scham oder Schuld, oder eine starke Identifikation mit Werten und Idealen. Diese Ösen sind größer und leichter zum Einhaken je unbewusster und unbearbeiteter diese Themen sind und je mehr wir im Autopilot agieren. Es lohnt sich also auch auf das psychische System zu blicken.
Nochmal kurz zurück zu den unterschiedlichen Ausgangsbeispielen, die alle ganz gut zeigen, dass jeder Mensch eine andere Wahrnehmung auf die Realität hat. Der Konstruktivismus geht sogar noch weiter und spricht nicht von einer Realität, sondern von vielen, die sich jeder selbst mit der individuelle Selektion, den Erfahrungen, der Sozialisation und des eigenen Wissens konstruiert. Damit wird klar, dass es nicht eine Selektion von der Realität gibt, die wir gemeinschaftlich wahrnehmen.
Wenn wir in einen neuen Raum kommen, fallen dem einen die Holzdielen auf, der anderen die stickige Luft und mir vielleicht die Kopfschmerzen, die ich durch die dunklen und niedrigen Decken bekomme. Beim nächsten Raum werden wir drei jedoch eventuell auch etwas ganz anderes wahrnehmen.
Weil sich Systeme immer wieder neu entscheiden, auf was sie hier und heute in Resonanz gehen. Wir können uns somit vom Gedanken der Metaphysik verabschieden, dass die Krafteinwirkung auf A eine Bewegung hinzu B veranlasst. Dass es eine Eindeutigkeit wie in der Naturwissenschaft gibt. Dass es nur eine Wahrheit gibt, ein Gut und ein Böse wie es die Theologie beschreibt. Oder ein Richtig und Falsch. Selbst Sinnstiftung ist eine individuelle Leistung der Zuschreibung auf etwas und kein Merkmal eines Systems und damit nicht auf Dauer und schon gar nicht einheitlich. Die Konzepte an sich gelten in ihren jeweiligen Disziplinen, ihr Übertrag auf soziale Systeme und damit auf Konfliktsysteme scheitert.
Es scheitert nämlich an der Komplexität von sozialen und psychischen Systemen, und damit, ja, auch ein bisschen an den Menschen 😉 Da denkt man, sie haben es verstanden und wissen nun endlich, dass es schon auch gut wäre, den Verkehr wieder mehr auf die Schiene zu legen, um CO2 Emissionen senken zu können. Und dann kommt da doch ein Herr Klingbeil daher und verhindert den Bau der Schnellstrecke zwischen Hamburg und Hannover. In dem Fall gibt es ein „ökologisches Richtig“, was jedoch unauflösbar mit dem „persönlichen Richtig“ in Konkurrenz tritt (siehe These 2).
Man kann Oszillieren und zeitlich bedingte Entscheidungen treffen für das eine oder das andere: In den nächsten zwei Wochen fokussieren wir uns auf die Erhöhung der Stabilität unseres Loginbereichs bei über 2 Mio. Zugriffen am Tag. Danach kümmern wir uns um das One-Click-Login-Feature. Aber man kann es nicht auflösen.
Qualität oder Schnelligkeit? Gesundheit der Bevölkerung oder Freiheit des Einzelnen? Familie oder Job? Dezentralisierung von Entscheidungen oder Nutzung von Synergieeffekten? Überall, wo man hinguckt: Paradoxien, Uneindeutigkeiten, Unklarheiten. Und das Schlimmste: Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt und welche Wirkung die Entscheidungen haben werden. Uns bleibt es nur, abzuwarten, zurückzublicken und dann die Vergangenheit zu bewerten.
Stecken wir jetzt den Kopf in den Sand? Wo ist denn da unsere Handlungsfähigkeit? Das Einzige, was uns bleibt, ist es diese Paradoxien einzuladen, sie kennenzulernen mit all ihren Vor- und Nachteilen auf beiden Extrempolen, und sie aushalten zu lernen.
Mic drop
Jetzt werden vielleicht einige von euch ein „Ja, aber…“ im Kopf haben. „Ja, aber, das kann man doch nicht einfach so stehen lassen.“ „Dann ändert sich doch nie was! „Was ist denn mit der Generation nach uns? Die wollen auch noch einen Planeten zum Leben haben.“ „Der Vertrieb müsste doch einfach besser verstehen, was unser Produkt kann, dann würde er nicht so ein Quatsch verkaufen.“ „Die Strategie von denen da oben hat rein gar nichts mit meinem Daily Business zu tun.“
Ja, auch berechtigte Einwände und da kommen wir wieder auf die Funktion des Konfliktes zu sprechen: Choose your piece of cake wisely. Wo der Konflikt funktional ist, da nutze ihn und schüre ihn sogar wenn notwendig und lass ihn auch eskalieren. Da, wo der Konflikt jedoch dysfunktional ist, halte deine Gefühle wie Angst, Schuld oder Scham aus. Es ist deine ganz persönliche Bewertung der Situation, daher sind es auch deine ganz persönlichen Gefühle dazu. Also nimm Verantwortung dafür an und übertrag es nicht ins Außen.
Damit schließt sich These 4 an:
„Wir haben keinen Konflikt mit anderen Menschen, sondern nur mit uns selbst.“
Zurück zum Beispiel mit dem dunkelblauen Stift: Das Kind mit dem Lockenschopf hat das Bedürfnis, kreativ zu sein und sich auszudrücken anhand eines Bildes von einem dunkelblauen Auto. Die Befriedigung dieses Bedürfnisses wird im Jetzt verneint oder in dem Fall verweigert, weil das andere Kind den Stift hat. Beide greifen auf eine knappe Ressource zurück. Die andere Person hat sie jedoch im Zugriff. Frustration entsteht. Jetzt braucht es die Kompetenz zu entscheiden, wie wichtig ist ihr das blaue Auto in der Erfüllung des eigenen Bedürfnisses. Findet sie eine andere Strategie? Merkt sie, dass sie das Bedürfnis parken kann? Kann sie das ungute Gefühl aushalten? Will sie sofort ein anderes Gefühl haben?
Moin, an diejenigen mit dem Harmoniezwang vom Anfang, ihr schlagt euch hervorragend!
Aushalten heißt in dem Fall, sich selbst regulieren und sich zum Beispiel die folgenden Fragen (und noch mehr, siehe Eidenschink) zu stellen:
- Welche Spielräume habe ich in meiner Selbstregulierung?
- Welche Spielräume habe ich in meinem Konfliktverhalten?
- Muss ich verneinen und widersprechen? Oder kann ich auch nachgeben?
- Muss ich mich durchsetzen? Oder kann es auch unentschieden sein?
- Muss ich in die Verhandlung gehen? Oder kann ich auch drohen?
- Muss ich erkundend bleiben? Oder kann ich auch meinen Standpunkt senden?
Die Kunst ist es hier, Freiheiten zu entwickeln, um die Verhärtung in Konflikten wieder in Bewegung zu bringen. Und das heißt eben manchmal auch eskalieren, den Punkt klar machen oder senden, und damit den Konflikt schüren.
Eine unangenehme Vorstellung? Kein Wunder. Gesellschaftlich haben wir das verlernt. Wir können großteils nicht mehr alle Räume in der Konfliktregulation bespielen, oder besser nicht mehr bewusst bespielen, und dürfen es daher wieder neu lernen.
Genau dieses Schüren von Konflikten kann extreme Angst hervorrufen. Angst vor Beziehungsverlust, Angst vor Gesichtsverlust, Angst vor Verletzungen, Angst vor dem Schamgefühl, Angst, etwas falsch zu machen, Angst vor Autonomieverlust, Angst vor Liebesentzug und Anerkennung usw. Der Selbstschutz vor diesen Ängsten fordert einen Zwang in unserem Verhalten, nämlich den Zwang der Verneinung und damit die Stabilisierung des Konfliktsystems. Und das kann immense Kräfte freisetzen, denn Angst ist ein kraftvoller Treiber.
Daher ende ich meinen Gedankenspaziergang mit der These 5:
„Keine Veränderung ohne Angst“
Und damit: keine Veränderung ohne Widerstand zum Bisherigen — sei es lauter oder leiser Widerstand. Gerade spannend in organisationalen Veränderungsprozessen, wo es häufig das Versprechen gibt, dass diese ohne Widerstände passieren oder die Menschen, die welche äußern „es einfach noch nicht richtig verstanden haben“. Widerstand und damit die dahinterliegende Ängste sind so real und berechtigt und wollen eine Geschichte erzählen. Sie sind mächtig und mit langem Atem bestückt, wenn man sich ihnen nicht ehrlich annimmt.
Daher ist mein Appell an uns, sich nicht nur die eigenen Muster der Konfliktpersönlichkeit anzuschauen und im besten Fall die eigenen Ängste zu bearbeiten, damit der Konflikt weniger Ösen findet bei uns. Sondern auch zu verstehen, was der Konflikt uns sagen möchte und welche Funktion er mit seiner Existenz bedient, um auch dort die Möglichkeit zu haben, Bewegung reinzubringen.
Zum Schluss noch eine Sammlung 5 Handlungsempfehlungen, die ich sehr hilfreich finde:
- Mach dir Lust auf Frust. (Torsten Groth)
- Umarme die Komplexität. (Lene Bredemeyer)
- Übe dich im Aushalten von Unsicherheiten. (Dieter Tappe)
- Baue dir eine Angstkompetenz auf. (Klaus Eidenschink)
- Schaffe in deiner Organisation Strukturen, die diese 4 Dinge fordern und fördern.
Referenzliste:
- Eidenschink, Klaus: Die Kunst des Konfliktes — Konflikte schüren und beruhigen
- Groth, Torsten: Paradoxiemanagement als Schlüssel zur Langlebigkeit – das Beispiel Mehrgenerationen-Familienunternehmen
- Luhmann, Niklas: Soziale Systeme — Grundriss einer allgemeinen Theorie
- Restorative Circles als Systemisches Konfliktmodell
- Rosenberg, Marshall B.: Gewaltfreie Kommunikation — Eine Sprache des Lebens
- Sprenger, Reinhard K.: Magie des Konfliktes — Warum ihn jeder braucht und wie er uns weiterbringt