In der komplexen bis chaotischen VUCA-Welt ist es ratsam, sich nicht auf die Entscheidung aus einer Perspektive zu verlassen, sondern diese in cross-funktionalen Expertenteams zu fällen. Arbeiten die selbstorganisiert, stehen sie vor allem zu Beginn ihrer Zusammenarbeit vor der Frage, wie sie Entscheidungen treffen wollen. Zunächst ist es für viele ungewohnt, innerhalb der gesetzten Commitments (z.B. von User Stories innerhalb eines Sprints) frei zu agieren und bestimmen zu können. Denn nun heißt es untereinander und miteinander entscheiden wie man ans Ziel kommt.
Im Artikel Entscheiden nach demokratischem Vorbild, wird unter anderem das Einstimmigkeitsprinzip vorgestellt. Dieses sticht als Extrem hervor, indem ein Lösungsvorschlag nur als beschlossen gilt, wenn alle Abstimmenden ein „Ja“ dafür geben.
Einstimmigkeit
- Auswahl aus verschiedenen Lösungsvarianten
- Eine Lösungsvariante wird im Idealfall von allen bejaht
- Möglichkeit des Vetos; in diesem Fall ist die Abstimmung gescheitert
Nüchtern betrachtet erscheint es zeitintensiv und vor allem mit unterschiedlichen Akteuren unrealistisch umzusetzen. Trotz dessen erlebe ich in der Praxis, vor allem in Teams, die zum ersten Mal mit Selbstorganisation in Berührung kommen, häufig den Wunsch, mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen. Diese Beobachtung passt auch zum Modell der Spiral Dynamics. Demnach folgt der Stufe der Leistungsorientierung, welche sich in Organisationen z.B. durch individuelle Zielvereinbarungen zeigt, eine Evolutionsstufe, die sich gemeinschaftsorientiert organisiert und Sicherheit über soziale Beziehungen herstellt.
Aus Perspektive der Gruppe ist das Verhalten nachvollziehbar: Keine Entscheidung gegen den ausdrücklichen Willen eines Einzelnen oder einer Minderheit zu treffen, stärkt Harmonie und Gruppenstabilität. Sich kompromissbereit zu zeigen, demonstriert Teamfähigkeit und das macht bestimmt einen guten Eindruck im nächsten Personalgespräch. Mag sich zumindest manche/r dabei denken.
Wie gelangt man in einem Team zu einer Übereinkunft?
In den ersten Tagen, vielleicht sogar Wochen oder Monaten, funktioniert das oft scheinbar intuitiv. Die Gruppe empfindet den Modus miteinander ins Gespräch zu kommen und Fachperspektiven zu diskutieren als anregend oder zumindest erstrebenswert. Auf diese Art und Weise lernen sich die Mitglieder besser kennen. Das ist ein wichtiges Element im Prozess des Teambuildings. Und doch kommt der Tag, an dem die Harmonie schwindet. Einige Mitglieder haben zu Gunsten des Teamfriedens bisher ihre Argumente wenig bis gemäßigt vertreten und in ihnen wächst das Bedürfnis, diese zu offenbaren. Oder die erste Deadline rückt näher und plötzlich fehlt die Zeit sich ausführlich abzustimmen. Egal, ob interne oder äußere Faktoren: Um Zeit und Energie zu sparen, entsteht oft unbewusst der erste Kompromiss.
Kompromiss
- Will Konflikte bei Meinungsverschiedenheiten lösen
- Es wird eine Übereinkunft geschlossen, in dem jede Entscheidungspartei Zugeständnisse macht
Ein “fauler Kompromiss” entsteht, wenn eine oder mehrere Konfliktparteien Zugeständnisse machen, aber die Entscheidung unwillentlich und damit nur scheinbar mittragen. Dieser führt manchmal dazu, dass im Nachgang ein Interessenausgleich gefordert wird. Noch destruktiver wirkt es, wenn dadurch Mitglieder bei der Umsetzung ihre Mitarbeit verweigern oder sie sabotieren.
Zur Veranschaulichung des Wesens von Kompromissen, bietet sich die Geschichte über die Orange ‑hier in der Corona-Edition erzählt- an: Beide Eltern sind im Home Office und hören eine lautstarke Diskussion in der Küche. Die beiden Kinder streiten sich um eine Orange. In einer Pause geht ein Elternteil in die Küche, um eine schnelle Klärung herbeizuführen, greift zum Messer, teilt die Orange in zwei Teile und gibt jedem Kind eine Hälfte. Der Streit ebbt ab. Zum Abendessen gibt es als Dessert einen Kuchen, den die Kinder als Überraschung für die Familie gebacken haben. Es stellt sich heraus, dass es geriebene Orangenschalen als Aroma für den Teig brauchte und der Streit entbrannte, als eines der Kinder dafür die Orange zur Hand nahm. Das Geschwisterkind wollte die Frucht essen und protestierte daher. Hat der Kuchen mit der halben Dosis Orangenschalenaroma trotzdem geschmeckt? Ist der Rest des Fruchtfleisches im Müll gelandet? War das die optimale Lösung? Sicher nicht.
Im Beispiel steht die geteilte Orange für den schnellen Kompromiss, der in diesem Fall von einer dritten Partei, einer nicht unmittelbar betroffenen Autoritätsperson, getroffen wurde. Als im Nachgang die Absichten hinter dem Streit deutlich werden, tritt eine Lösungsvariante in Augenschein, die den Beteiligten vorher nicht in den Sinn gekommen war: Ein Kind bekommt die Schale, das andere das Fruchtfleisch. Ein Gespräch über Intentionen hatte in der stressigen Umgebung nicht stattgefunden. Die Konsens-Technik möchte dem Vorbeugen und eine größere Zufriedenheit schaffen. Das Ziel ist es, dahinterstehenden Bedürfnisse und Probleme auf den Tisch zu legen und eine Lösung zu finden, die tragfähig ist und idealerweise alle Aspekte bestmöglich berücksichtigt.
Konsens
- Misst Übereinstimmung, nicht Einstimmigkeit oder zwangsläufige Zustimmung
- „Ja und „Nein“ wird differenziert
Für die Anwendung ist es hilfreich, wenn in der Gruppe die Bereitschaft besteht, sich Zeit zu nehmen an einem gemeinsamen Ziel zu arbeiten sowie Bedenken oder abweichende Meinungen offen zu äußern. Im Konsens miteinander zu entscheiden will also gelernt werden.
Was schließen wir daraus?
Einstimmigkeit, Kompromiss und Konsens ist nicht das Gleiche. Da sie nah beieinander liegen, werden sie teilweise synonym verwendet. Konsens scheint simpel, bedarf allerdings Zeit und Willen, sich aufeinander einzulassen und eine gemeinsame Lösung zu finden. Das ist wertvoll für die Stabilität der Gruppe. Das Ideal der entstehenden Gruppenkultur löst sich vom eigenen Ego und wendet sich Argumenten anderer Gruppenmitglieder zu. Das wirkt vor allem für Gruppen unter widrigen Umständen identitätsstiftend und langfristig stärkend. In Umgebungen, wo schnell viele Entscheidungen getroffen werden, ist diese Entscheidungsform schwer anzuwenden und endet leider manchmal ungewollt als fauler Kompromiss, der sich negativ auf die Teamstimmung auswirkt.
Ich empfehle Teams regelmäßige Retrospektiven. Bei der Durchsicht, wie die Arbeitsweise des Teams funktioniert, findet man am besten heraus, was passt oder überholenswert ist. Entscheidungsprozesse und deren Adaption gehören auch dazu. Wir bieten an die verschiedene Entscheidungsformen kennenzulernen, auszuprobieren und zu verstetigen. Welche das noch sein können und wie diese funktionieren, findet Ihr in unseren Podcast zum Thema Konsent und den Artikel zum systemischen Konsensieren heraus.
Welche Erfahrungen habt ihr mit Entscheidungsfindung im Team gemacht? Kommt mit uns in den Austausch zum Knotentelefon.