Grafik: Karl Bredemeyer

In der komple­xen bis chao­ti­schen VUCA-Welt, ist es ratsam sich nicht auf die Entschei­dung aus einer Perspek­tive zu verlas­sen, sondern diese in cross-funk­tio­na­len Exper­ten­teams zu fällen. Arbei­ten diese selbst­or­ga­ni­siert, stehen sie vor allem zu Beginn ihrer Zusam­men­ar­beit vor der Frage, wie sie Entschei­dun­gen tref­fen. Zunächst ist es für viele unge­wohnt inner­halb der gesetz­ten Commit­ments (z.B. von User Stories inner­halb eines Sprints) frei zu agie­ren und bestim­men zu können. Denn nun heißt es unter­ein­an­der und mitein­an­der entschei­den, wie man ans Ziel kommt. 

Wer schnelle Entschei­dun­gen eines Chefs gewohnt ist, dem mag der Prozess einer gemein­sa­men Entschei­dungs­fin­dung zunächst zäh und vor allem unnö­tig vorkom­men. Doch auch in Teams können Entschei­dun­gen durch gere­gelte Abstim­mungs­ver­fah­ren effi­zi­ent getrof­fen werden. Ausschlag­ge­bend dafür ist, für welches man sich entschei­det. Wir stel­len in unse­rer Blog­se­rie “Parti­zi­pa­tiv Entschei­den” die verschie­de­nen Möglich­kei­ten vor, um einen Über­blick anzu­bie­ten und die passende Wahl tref­fen zu können. 

Nach­dem wir bereits vor eini­gen Wochen den Mehr­heits­be­schluss unter die Lupe genom­men haben, möch­ten wir uns heute im Teil 2 einer eher unbe­kann­ten Methode nähern: Dem Syste­mi­schen Konsensieren. 

Was soll dieser lange Name bedeu­ten?  

Syste­misch bezieht sich darauf, nicht nur eine indi­vi­du­elle Entschei­dung zu tref­fen, sondern diese bewusst im Zusam­men­hang mit ande­ren Fakto­ren zu betrach­ten. Es geht vor allem um die Quali­tät und Trag­fä­hig­keit einer Entschei­dung für das ganze Team oder die Orga­ni­sa­tion. Konsen­sie­ren ‑das ist kein Geheim­nis– steht dafür, einem Konsens möglichst nahe zu kommen bzw. abzu­bil­den zu bis zu welchem Grad man sich diesem erreicht. 

Entwi­ckelt wurde das Verfah­ren von zwei Öster­rei­chern namens Sieg­fried Schrotta und Erich Visot­sch­nig, die sich als System­ana­ly­ti­ker in einem inter­na­tio­na­len Konzern in den 80er Jahren kennen­lern­ten und nach Alter­na­ti­ven für hier­ar­chi­sche Entschei­dungs­struk­tu­ren suchten. 

Was macht die Methode aus? 

Dem Gesetz des Strom­krei­ses folgend, ist es auch beim Syste­mi­schen Konsen­sie­ren das Ziel Wider­stand zu mini­mie­ren, damit mehr Ener­gie fließt. Die meis­ten Entschei­dungs­me­tho­den messen Zustim­mung und wollen diese maxi­mie­ren. Beim Syste­mi­schen Konsen­sie­ren, welches sich auch für komplexe Entschei­dun­gen eignet, rückt die Option in dem Mittel­punkt, die den gerings­ten Wider­stand bzw. die höchste Akzep­tanz in der Gruppe erzielt. Dabei werden hindernde Argu­mente iden­ti­fi­ziert und bei der Lösungs­fin­dung berück­sich­tigt. Damit soll auch Umset­zungs­wahr­schein­lich­keit erhöht und spätere Reibungs­ver­luste mini­miert werden. Kurz­ge­fasst: Es geht darum Bedürf­nisse ernst zu nehmen und idea­ler­weise daraus neue Möglich­kei­ten zu erschließen. 

Gemäß eines rela­ti­ven Mehr­heits­ent­scheids würde die Vari­ante “Tasks dürfen zu zweit bear­bei­tet werden” den meis­ten Zuspruch erhalten. 

Beim Syste­mi­schen Konsen­sie­ren wird jede Option von jedem und jeder Stimm­be­rech­tig­ten einzeln bewer­tet: Das heißt jede/r drückt zu jeder Vari­ante den Grad der Zustim­mung oder Ableh­nung aus. Die Wertung wird in der Regel durch ganze Zahl­werte auf der Skala von 0 bis 10 vorgenommen: 

  • Dabei drückt 0 keinen Wider­stand (Na das ist ja voll­kom­men eindeu­tig und klar) und 
  • 10 die maxi­male Resis­tenz (Auf keinen Fall und dafür habe ich viele gute Gründe) aus 
  • Mit einer 5 oder 6 gebe ich zu verste­hen, dass ich der Option eher neutral gegenüberstehe. 

Wenn alle Infor­ma­tio­nen vorlie­gen, die es für die Einschät­zung braucht, dauert dieser Bewer­tungs­schritt meist weni­ger als fünf Minu­ten. Im benann­ten Abstim­mungs­bei­spiel favo­ri­siert die abstim­mende Person A sicht­lich „Tasks nur alleine bear­bei­ten” mit einem Wider­stand von 0, Option 2 wäre für sie mit einem mitt­le­ren Wert okay, während sie die dritte Vari­ante für leicht kritisch hält. 

Wie exem­pla­risch an Hand der nach­fol­gen­den Tabelle darge­stellt, wird das Meinungs­bild aus allen Einzel­er­geb­nis­sen zusam­men­ge­führt. Zusätz­lich kann neben den Zahlen­wer­ten durch Farb­ge­bung ein opti­scher Über­blick vermit­telt werden. Zustim­mung wird dann mit Grün­far­ben gekenn­zeich­net, während mitt­lere Werte Gelb­tö­nen und Wider­stände Rotnu­an­cen zuge­ord­net werden. Als weitere Hilfe­stel­lung kann das Mittel aus der Summe und aus dieser Wider­stands– und Akzep­tanz­quo­ten gebil­det werden. Werden beiden Vari­an­ten ange­wandt, steigt die Wahr­schein­lich­keit Kopf- und Bauch­ent­schei­dungs­men­schen “mitzu­neh­men”. 

Wie wir sehen können, liegt der Akzep­tanz­grad der verschie­de­nen Vari­an­ten, in der letz­ten Tabel­len­spalte, nah beiein­an­der. Die Option “Arbeit mit mehre­ren Perso­nen an einem Task möglich” erzielt mit einem Akzep­tanz­grad von 65% jedoch den gerings­ten Gesamt­wi­der­stand-es scheint eindeu­tig genug ausge­gan­gen zu sein! Und die Person, die sich vorher der Stimme enthal­ten hat, hat sich offen­bar frei­wil­lig entschie­den doch ihre Einschät­zung hinzuzufügen. 

Bevor alle wieder ausein­an­der gehen, passiert jedoch noch etwas Wich­ti­ges: Die sicht­ba­ren Einzel­wi­der­stände, zunächst der präfe­rier­ten Vari­ante, werden thema­ti­siert. Meist wenn sie den Wert 8 oder mehr haben. Die Perso­nen, die von der Gesamt­mei­nung abwei­chen, in diesem Fall Person A und B sollen sich von der Gruppe ernst genom­men fühlen, wenn sie ihre Argu­mente darzu­le­gen. Das Hören von Gegen­ar­gu­men­ten bei hohen Abwei­chun­gen fördert den Perspek­tiv­wech­sel, ein vertrau­ens­vol­les Mitein­an­der und hilft der Gruppe zu erken­nen, ob sie rele­vante Infor­ma­tio­nen bei ihrer Entschei­dungs­fin­dung ggf. nicht einbe­zo­gen hat. Dabei können unter­schied­li­che Dinge entstehen: 

  • Es entsteht ein Klärungs­pro­zess in der Gruppe, welcher zu einer präzi­se­ren Formu­lie­rung der Entschei­dung oder Fest­le­gung von Anwendungsfällen/ Ausnah­men führt, die das gemein­same Verständ­nis fördern. 
  • Es entsteht ein Meinungs­bil­dungs­pro­zess in der Gruppe, der zu einer oder mehre­ren neuen Lösungs­va­ri­an­ten führt. 
  • Es entsteht ein Meinungs­bil­dungs­pro­zess in der Gruppe, inklu­sive der Skep­ti­ker der Vari­ante mit der höchs­ten Akzep­tanz­quote, der eine Neube­wer­tung sinn­voll erschei­nen lässt. 
  • Die Entschei­dung wird vertagt. 
  • Gegen­ar­gu­mente werden gehört und die Entschei­dung dennoch beibe­hal­ten- mit dem Wissen, dass das Risiko besteht und allen bekannt ist. 
  • Alter­na­tiv kann einem Dele­gier­ten die finale Entschei­dung aus der Gruppe heraus vertraut und über­eig­net werden. 

Warum genau lohnt es sich das jetzt noch­mal auszu­pro­bie­ren? 

Das syste­mi­sche Konsen­sie­ren gibt eine einfa­che Struk­tur vor, um ein diffe­ren­zier­tes Meinungs­bild in kurzer Zeit abzu­bil­den. Die Methode inten­diert Koali­tio­nen zur Stimm­ab­gabe zu vermei­den und statt­des­sen Argu­mente in den Mittel­punkt zu rücken. Dadurch, dass zu Beginn alle Vorschläge und Optio­nen gelis­tet werden und diese dann sepa­rat von jedem und jeder Teil­neh­men­den bewer­tet werden, entsteht ein glei­ches Gewicht für jede/n in der Gruppe. Weiter­hin beschäf­ti­gen sich dadurch alle Abstim­men­den mit Vor- und Nach­tei­len der jewei­li­gen Entschei­dungs­va­ri­an­ten und erhö­hen damit Quali­tät und Commit­ment der Entscheidung. 

Durch den sich anschlie­ßen­den Austausch, wird eine hohe Trans­pa­renz über rele­vante Wider­stände herge­stellt. Basie­rend auf Wider­stands­wer­ten kann eine gezielte Diskus­sion erfol­gen, die entschei­dungs­re­le­vante Punkte fokus­siert, statt alle Empfin­dun­gen der Gruppe ausführ­lich zu bespre­chen. Ein acht­sa­mer Umgang mit Beden­ken und das Berück­sich­ti­gen von Wider­stän­den der Minder­hei­ten ein Kern­ele­ment. Durch den Dialog darüber entste­hen oft gemein­same neue Denk– und Lösungs­an­sätze. Ziel ist es dabei, dass das Team nach einer Syner­gie­lö­sung sucht, statt einen schlech­ten Kompro­miss zu schlie­ßen, der bei der Methode ohne­gleich durch hohe Wider­stands­werte “enttarnt” würde. 

Der wich­tigste Effekt ist, dass sich eine größere Anzahl an Perso­nen als beim Mehr­heits­ent­scheid mit dem Ergeb­nis iden­ti­fi­zie­ren können: Selten stim­men Menschen mit 10 gegen einen Vorschlag. Daher steigt die Wahr­schein­lich­keit, dass jede/r ein Mindest­maß an Zustim­mung dem Entschei­dungs­er­geb­nis entge­gen­bringt. Dadurch wird eine höhere Kongru­enz zwischen Entschei­dung und anschlie­ßen­dem Handeln erreicht. Allen wird nach­voll­zieh­bar warum es zu diesem Entschei­dungs­er­geb­nis kam. Bei der weit verbrei­te­ten rela­ti­ven Mehr­heit aus dem ersten Beispiel hätten 5 von 8 Perso­nen sich nicht für Option 2 ausge­spro­chen. Die Wahr­schein­lich­keit, der getrof­fe­nen Entschei­dung den Rücken zukeh­ren ist damit höher als beim Syste­mi­schen Konsensieren. 

In jedem Fall setzt das Verfah­ren Anreize konstruk­tive Lösun­gen im Sinne der Gruppe zu finden und lässt eine konflikt­lö­sende Dyna­mik entste­hen, in der kontro­verse Argu­mente kein Tabu sind, sondern viel­mehr eine ziel­ge­rich­tete Diskus­si­ons­kul­tur fördern. Das Syste­mi­sche Konsen­sie­ren eignet sich ebenso, um sich als Product Owner, Projekt­lei­ter oder Prozess­be­glei­ter in einem viel­schich­ti­gen Umfeld eine Meinung vom Team einzu­ho­len, wenn die Ergeb­nisse und finale Entschei­dungs­kom­pe­tenz vorab klar kommu­ni­ziert werden. 

Was sollte ich beach­ten? 

Auch wenn die Abstim­mung selbst sehr schnell geht, sollte Zeit für die Vorbe­rei­tung einge­plant werden. Je nach Komple­xi­tät des Themas, gibt es viel­leicht viele Lösungs­an­sätze zu formu­lie­ren oder den Bedarf sich zusätz­li­che Infor­ma­tio­nen einzu­ho­len. Dazu gehört auch die Formu­lie­rung einer geeig­ne­ten Frage­stel­lung, die offen, aber präzise genug sein sollte, damit hilf­rei­che Lösun­gen entstehen. 

Weiter­hin ist es hilf­reich einen Mode­ra­tor einzu­bin­den, der z.B. Scrum Master oder agile Coach ist. Er gibt darauf acht, dass ein Brain­stor­ming oder die Suche nach Alter­na­tiv­lö­sun­gen wertungs­frei abläuft. Vor allem der Part, in dem Einwände thema­ti­siert werden, kann für Teams zunächst eine Heraus­for­de­rung sein. Ein Mode­ra­tor kann unter­stüt­zen, dass sich die Teil­neh­men­den gegen­sei­tig ausspre­chen lassen, Rede­an­teile gerecht verteilt sind oder sich Argu­mente wiederholen. 

In jedem Fall ist das Entschei­dungs­ver­fah­ren mit einer Haltung verbun­den, die empa­thi­sches Zuhö­ren von allen Teil­neh­men­den fordert. Besteht bei eini­gen oder allen Teil­neh­men­den wieder­holt eine “Alles oder nichts-Menta­li­tät”, wie es sich im Beispiel bei Person F sein könnte, ist auch der Methode ein Grenz­nut­zen gesetzt. Der Fokus der Methode auf die Thema­ti­sie­rung von Wider­stän­den kann für einige Konflikte auf Bezie­hungs­ebene als Einla­dung wirken, um Aufmerk­sam­keit auf die Person, statt die Sach­ebene zu lenken. Auch diesem Fall ist ein aufmerk­sa­mes Beob­ach­ten und Inter­ve­nie­ren eines des Mode­ra­tors sinnvoll. 

In jedem Fall soll­ten die ersten Gehver­su­che mit dieser Entschei­dungs­me­thode von Wohl­wol­len aller geprägt sein, während die Gruppe sich an die neue Form der Gesprächs­füh­rung gewöhnt und ihre Diskus­si­ons­kul­tur auf ein neues Level hebt. 

Wie starte ich? 

Das entschei­dest Du. Schon ab heute kannst Du Vorschläge, die ande­rem Menschen macht mit der Frage “Gibt es Einwände?” kombi­nie­ren. Wenn sicher keiner zu Wort meldet und nonver­bal nichts darauf hinweist, dass diese Idee auf Ableh­nung stößt, hast Du eine schnelle Entschei­dung herbei­ge­führt und abge­si­chert, dass keiner deswe­gen am nächs­ten Tag kündigt. 

Die Methode kann analog mit Abstim­mungs­zet­teln durch­ge­führt und auf einem Flip­chart doku­men­tiert werden. Hat jede/r im Team ein Set an Konsen­sie­rungs-Karten (jeweils eine Karte mit den bekann­ten Zahl­wer­ten), können diese, wie Plan­ning Poker, bei einer persön­li­chen Zusam­men­kunft oder bei einem Online­mee­ting mit Kamera einge­setzt werden. 

Alter­na­tiv könnt Ihr eine Excel auf einem gemein­sa­men Lauf­werk erstel­len, in dem jede/r seine Werte einträgt oder das Online-Tool accep­tify nutzen. In jedem Fall hast Du immer die Vari­an­ten das Abstim­mung zu anony­mi­sie­ren oder offen zu gestal­ten. Wenn Du mehr erfah­ren oder mit uns darüber disku­tie­ren möch­test, schreib uns eine Mail und wir melden uns bei Dir! Ansons­ten empfeh­len wir Dir zur Vertie­fung ein Webi­nar am 27.4. von Josef Maiwald, über den wir das Tool kennen­ge­lernt haben oder das nächste Semi­nar “des Origi­nal” SK-Prin­zip