Grafik: Karl Bredemeyer

Zur besse­ren Lesbar­keit wird im folgen­den Text auf eine Gender diffe­ren­zie­rende Schreib­weise verzichtet.

Die aktu­elle Ausgabe der Zeit­schrift für Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung setzt sich inten­siv mit der Bedeu­tung diffe­ren­zier­ter Rollen- und Menschen­bil­der ausein­an­der. Ein Thema, dass der agilen Commu­nity nicht fremd ist: einer der funda­men­tals­ten Unter­schiede zwischen Scrum und Kanban besteht darin, dass Scrum­mies ohne einen dedi­zier­ten PO keinen Finger krumm machen, während Kanba­nis­ten nach dem Credo “Start with what you have” versu­chen, möglichst wenig neue Rollen und Funk­tio­nen zu etablie­ren, um die Orga­ni­sa­tion nicht zu stark zu irritieren.

Neu ist, dass auf einmal Bedeu­tung und Ausmaß der Authen­ti­zi­tät der betei­lig­ten Perso­nen in Frage gestellt werden. Während sich in einer Befra­gung wahr­schein­lich die über­wie­gende Mehr­heit dazu beken­nen würde, sehr viel Wert darauf zu legen, dass neue Kolle­gen oder Bewer­ber möglichst authen­tisch seien, legt die aktu­elle Forschung nahe, dass genau das Gegen­teil erfor­der­lich ist, um erfolg­reich zu sein und Komple­xi­tät zu minimieren.

Rolle versus das wahre Leben

Stel­len­aus­schrei­bun­gen formu­lie­ren Wünsche an eine bestimmte Rolle oder Funk­tion: Team­lei­ter, Product Owner, Projekt­ma­na­ger. Diese Wünsche spei­sen sich wiederum aus, wenn­gleich nicht immer eindeu­ti­gen, etablier­ten Bildern, die sich über Jahre entwi­ckelt und in den Köpfen und Jobpor­ta­len dieser Welt verwur­zelt haben. Da man nun jedoch keine Robo­ter sondern Menschen anstel­len möchte, werden noch ein paar weiche Fakto­ren ergänzt und wenn alles glatt läuft, ist man nur noch ein paar Inter­views von der super­au­then­ti­schen Spit­zen­füh­rungs­kraft mit mega­re­le­van­ter Berufs­er­fah­rung und fast gar keinen Leichen im Keller entfernt.

Doch was passiert, wenn diese Führungs­kraft, immer­hin mit diszi­pli­na­ri­scher Verant­wor­tung für 84 Perso­nen, auf einmal weinend vor einem Mitar­bei­ter zusam­men­bricht und gesteht, dass ihr das alles zu viel wird? Der Erwar­tung an ein authen­ti­sches Auftre­ten dieser Person würde hier ganz klar gerecht werden. Die Erwar­tun­gen an das authen­ti­sche Ausfül­len der Rolle Bereichs­lei­ter wären mit dem emotio­na­len Zusam­men­bruch maßlos enttäuscht worden. “Kann ich mit meinen Proble­men denn jetzt noch auf meine Führungs­kraft zuge­hen, wenn diese mit ihren eige­nen schon nicht klar kommt?”

Authen­ti­zi­tät versus Offenheit

Rainer Nier­mayer formu­liert es ziem­lich dras­tisch: “Ledig­lich unver­bes­ser­li­che Gutmen­schen und brave oder reali­täts­ferne Kommu­ni­ka­ti­ons­trai­ner der Stuhl­kreis-Gilde unter­lie­gen noch dem Authen­ti­zi­täts­wahn.” Auch wenn ich den Stuhl­kreis als Format hier zu Unrecht diffa­miert sehe, kann ich dieser Kritik etwas abge­win­nen. Nach meiner Auffas­sung wird Authen­ti­zi­tät noch zu häufig mit dem agilen Grund­wert “Offen­heit” gleich­ge­setzt. Die Erwar­tung als ganzer Mensch da zu sein kann niemals erfüllt werden denn sie würde einige Betei­ligte Perso­nen — sowohl Sender als auch Empfän­ger — hoff­nungs­los über­for­dern. Solange wir zur Reduk­tion von Komple­xi­tät noch mit Funk­ti­ons- und Rollen­be­schrei­bun­gen hantie­ren, bleibt es essen­zi­ell, zunächst im Ausüben und Ausle­ben der Rollen authen­tisch zu sein. Selbst wenn es bedeu­tet, diese Rollen nur zu spielen.

In einem der voran­ge­gan­ge­nen Arti­kel habe ich bereits die Bedeu­tung der Rück­sicht­nahme auf die Iden­ti­tät von Orga­ni­sa­tio­nen ange­spro­chen (Execu­tive Summary: respek­tiere sie!). Das Glei­che gilt selbst­ver­ständ­lich auch für den Umgang mit Menschen. Die Wahr­schein­lich­keit authen­ti­sches Verhal­ten zu provo­zie­ren ist umso höher, je mehr die erwar­tete Rolle dem Persön­lich­keits­bild der adres­sier­ten Person eher ent- als wider­spricht. Ein leiden­schaft­li­cher Erbsen­zäh­ler wird seine Schwie­rig­kei­ten haben, den Erwar­tun­gen an das Rollen­bild eines visio­nä­ren Product Owners auch nur ansatz­weise zu entspre­chen. Als Control­ler wäre er wiederum hervor­ra­gend geeig­net. Es sei denn, er schafft es, die Rolle Product Owner so gut zu spie­len, dass es nieman­dem auffällt.

Ist es also egal, ob Menschen authen­tisch sind oder nicht?

Nier­mayer formu­liert es so: “Erfolg hat somit nur, wer glaub­haft darstel­len kann, dass er authen­tisch ist.” Das bedeu­tet, dass die Erwar­tun­gen an die unter­schied­li­chen Rollen expli­zit gemacht werden müssen, um dann zu schauen, ob Bewer­ber oder bereits beschäf­tigte Perso­nen, den Erwar­tun­gen an die authen­ti­sche Darstel­lung einer Rolle gerecht werden können.

Alles Weitere dann auf der Weihnachtsfeier.