
Wir haben unser Leben lang gelernt, dass Organisationen uns Grenzen setzen. In der Schule war klar, wann die Pausen sind. Vielleicht wurde es in der Uni mal etwas eigenverantwortlicher, aber bereits im ersten Job wird ziemlich schnell wieder deutlich: Die Organisation gibt vor, was Arbeit und wann Freizeit ist. Zumindest bis vor einiger Zeit.
Eine Rebellion gegen diese Grenzen läuft schon länger. Während mancherorts noch über die Option und Regelung von Home Office nachgedacht wird, sind andere schon als digitale Nomaden in der Arbeitswelt unterwegs und arbeiten, wann und wo sie wollen.
Die Nachricht vom EuGH-Urteil zur Arbeitszeiterfassung brachte die „New-Work-Welt“ zum Beben. Die Ankündigung, Arbeitgeber künftig zur Arbeitszeiterfassung zu verpflichten, fühlt sich wie ein Rückschritt in die Zeiten der Begrenztheit an, aus denen sich manche erst mühsam befreit haben oder noch befreien wollen. Die Debatte um die Erfassung von Arbeitszeiten provoziert eine wichtige Frage, die zu selten diskutiert wird: Was könnte denn das Gute an Grenzen sein? Und warum brauchen wir Grenzen?
Grenzen können uns entlasten
Die WHO kategorisiert Burn-Out zwar nicht als Krankheit. Aber sie erkennt das Phänomen als arbeitsbedingten, nicht abgebauten Stress an. Genau hier liegen die großen Vorteile von Grenzen: Sie können uns entlasten. Damit ist nicht gemeint, dass wir jetzt kollektiv eine Rolle rückwärts zur Stempeluhr machen sollten. Mittlerweile müssen die wenigsten noch davon überzeugt werden, dass es großartig ist, nicht mehr acht Stunden in einem Büro gefesselt zu sein, sondern theoretisch von überall aus arbeiten zu können. Unzählige Apps ermöglichen es uns scheinbar, sehr effizient zu sein, wie Lena Marbacher in ihrem tollen Artikel Holy Crap verdeutlicht. Und da wir uns zumindest in der New Work Welt nur bedingt auf die Organisation als Grenzgeberin verlassen können, trifft es Joana Breidenbach, wenn sie sagt: “New Work requires Inner Work.”
Denn um zu erkennen, was uns wirklich wichtig ist, brauchen wir Introspektion. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, wer wir sind und was uns antreibt. Wir müssen für uns selbst identifizieren: Wo ist meine Grenze? Was ist für mich in meinem Leben zu viel?
Zusammenarbeit braucht Grenzen
Grenzen ziehen tut weh. Beiden Seiten. Es tut weh, eine Grenze gezeigt zu bekommen. Vielleicht, weil Erwartungen enttäuscht werden, vielleicht, weil die eigenen Bedürfnisse zurückgestellt werden müssen. Und genauso tut es weh, Grenzen zu ziehen. Weil man Erwartungen enttäuscht, weil man anderen vielleicht gerne einen Gefallen tut, weil man gefallen will. Aber es ist wichtig, dass wir anfangen, unsere Grenzen zu erkennen und erkennbar zu machen, damit die entgrenzte Arbeitswelt uns nicht krank macht.
Wer eine Grenze für sich zieht, fordert gleichzeitig das Gegenüber auf, über die eigenen Grenzen zu reflektieren: “Welche Anteile davon kann ich für mich akzeptieren, mit welchen hadere ich und warum?”. Wertschätzend artikulierte Grenzen haben sogar das Potenzial, als Einladung zum Dialog und zum Austausch zu wirken. Denn je mehr Informationen ein Mensch erhält, desto eher ist er auch bereit, über die gezogene Grenze zu verhandeln. Es ist Zeit, diese innere Arbeit anzuerkennen und zu fördern: Wie erkenne ich meine Grenzen und wie ziehe ich sie rechtzeitig, bevor ich sie immer und immer wieder überschreite?
Viele New-Work Organisationen sind “gierig”
Stefan Kühl weist in seinem Artikel in der brand eins darauf hin, dass New-Work Organisationen die Tendenz haben, ihren Mitgliedern gegenüber “gierig” zu sein. Sie wollen alles, den ganzen Menschen. So verheißungsvoll das im positiven Fall vielleicht klingen mag, so sehr werden in diesem Szenario die Schutzfunktion einer Rollentrennung und die „Workplace Boundaries“ für das Individuum vernachlässigt. „Anders als in Krankenhäusern, Altersheimen oder psychiatrischen Anstalten wird in gierigen Organisationen die Unterscheidung zwischen beruflicher Rolle und privaten Gefühlen eben nicht systematisch in Supervisionen kritisch reflektiert“, schreibt Stefan Kühl.
Lasst uns darüber sprechen, wie und wo wir Grenzen ziehen können. Und neben der Introspektion die jeder und jede Einzelne von uns machen muss, können uns auch Daten helfen ins Gespräch zu kommen. Daten, die unter anderem aus der Zeiterfassung kommen und Aufschluss darüber geben können, ob das Volumen der Arbeit schaffbar ist oder ob die Mitarbeitenden vielleicht Support brauchen, um nicht in Arbeit und Überstunden zu versinken. Mit dieser Perspektive ist die Verpflichtung zur Zeiterfassung sehr gut mit einer gesunden Form von New Work vereinbar.