Hinter großen Glasscheiben sehe ich mit Post-its verhangene Wände, Pflanzen als Raumteiler eines Großraumbüros und mehrere höhenverstellbare Tische. Sieben Menschen fixieren hochkonzentriert ihre Bildschirme in den neuen Räumen eines etablierten Start-ups in Berlin-Mitte. Dieses Team erdenkt und erschafft die Produkte von Morgen. Es ist still im Büro und irgendetwas fehlt. Ich suche den Product Owner.
Ich hatte immer dieses Bild des wildgestikulierenden, ständig kommunizierenden und tendenziell sehr extrovertierten Product Owners im Kopf. Einer, der die ganze Zeit auf dem Sprung ist: Entweder weil er gleich einen Termin beim Kunden hat, mit seinem Team in Backlog Refinements oder Plannings sitzt. Oder weil er gerade auf dem Weg in den großen Workshopraum ist, um sich dort mit seinen Stakeholdern die Customer Journey der nächsten Entwicklungsphase zu erarbeiten. Hier suche ich ihn aber vergeblich. Fast schon versteckt, fixiert diese kleine Gruppe Menschen ihre Bildschirme, die mit Excellisten, Slackchats und Trelloboards bestückt sind — gemeinsame Kommunikationskanäle mit ihren Entwicklungsteams, die in einer Entfernung von zehn Metern Luftlinien im gleichen Raum sitzen.

Im Sinne der 5 Archetypen eines Product Owners stelle ich mir die Frage, wie sich die jeweiligen Entscheidungsfreiheiten, gegeben durch die Organisation, auf das Produkt auswirken und ob das, was ich hier beobachten kann ein Stenograph, Diplomat oder ob es schon Freiheiten für einen Alchemisten gibt. Wird das Produkt tatsächlich innovativer, weil der Product Owner als übersetzender „Alchemist” seine eigene Vision zumindest in Teilen umsetzen kann? Gestaltet sich die Arbeit vielleicht effektiver für die Teammitglieder, wenn ein „Diplomat” alle Anforderungen hört und diese zueinander in Relation setzt? Oder wie ändert sich der Anwendernutzen, wenn der Product Owner Anforderungen als „Stenograph” niederschreibt, ohne diese vorher mit der Vision zu hinterfragen? Und ändert sich schließlich positiv etwas am Ergebnis, wenn die Rolle zwar Legitimation für Entscheidungen erhält und somit als Entscheider agiert oder gar großes Genie sein Produkt gestalten beziehungsweise völlig frei und selbstständig entwickeln kann?
Die Zahlen des Controllingreports des Start-ups und meine täglichen Erfahrungen mit der Entwicklung lassen ohne viele Zweifel darauf schließen, dass hier kaum für den Anwender gearbeitet wird, sondern größtenteils für das Management Produkte entwickelt werden. Entsprechen die Freiheitsgrade denen eines Alchemisten oder Diplomaten. Auf der anderen Seite muss eine Rolle auch mit Leben und mit Freude ausgefüllt werden und ein Produktmanager ist noch lange kein Product Owner. Das Produkt braucht ihn, seine Lebendigkeit, seine Kommunikationsskills, seine Leidenschaft. Wenn der Product Owner aber grübelt und schweigt, stirbt es langsam, aber qualvoll.
Die Hypothese ist: Je mehr Entscheidungsfreiheiten ein Product Owner hat, desto eher entspricht das Produkt sowohl der Vision als auch dem Nutzerbedürfnis. Die Gleichung ist simpel, aber dennoch komplex: Wenn ein Projektmanager alle Freiheiten der Welt hat, seine Persönlichkeit aber nicht der eines Product Owners entspricht, ist die Hypothese nicht erfüllt. Deshalb muss stets hinterfragt werden, wieviel Entscheidung notwendig ist und mit wieviel ich mich selber wohl fühle. Bin ich ein Visionär? Möchte ich überhaupt ständig kommunizieren und eng im Team arbeiten? Entspricht es meinen Fähigkeiten und Interessen, Perspektivenwechsel einzunehmen und mich in den Kunden hineinzuversetzen statt nur vom Management geleitet zu werden? Habe ich wirklich keine Scheu, zu Stakeholder auch mal Nein zu sagen? Produkte können nur gut werden und das Team zufrieden sein, wenn sie für den Kunden und nicht nur für Management gedacht werden. Dafür müssen aber auch die Rahmenbedingungen der Organisation entsprechend wirken: Ein Product Owner braucht die Legitimation des Unternehmens, seine Visionen leben zu dürfen. Ist die Legitimation gegeben, muss der einzelne Mensch auf der anderen Seite auch bereit sein, diese anzunehmen.
Wie lebt ihr eure Rolle als Product Owner? Welche Konsequenzen ergeben sich für eure Produkte daraus?